Wieviel gummibärchen braucht ein Mann, um zu vergessen.
Die kleine Kneipe...
Ich habe ja schon des öfteren über die beklagenswerte Situation der Darmstädtischen Kneipenszene ausgelassen, jemand der aus einer richtigen Großstadt (das ist eine Stadt mit einem Bundesliga-Fußballverein) stammt kann sich unser lokales Lokaldefizit gar nicht vorstellen. Aber ich möchte einmal so sagen, wenn der beste einheimische Fußballverein gegen Weltteams wie "Buchonia Flieden" spielt, weiß man, was die Uhr geschlagen hat.
Der SV Darmstadt 98 war in den frühen 80ern ja mal die erste Amateurmannschaft, die es in die Bundesliga geschafft hatte. Der bewundernde Volksmund prägte damals den Begriff "Feierabendprofis" für die heldenhaften Kicker. Wie aktuell diese Bezeichnung in Darmstadt auch in anderen Bereichen ist, mussten wir vor einigen Jahren feststellen.
Damals in den mittleren 90ern suchte ich mit ein paar Freunden eine nette ruhige Kneipe. Wir wollten UNO spielen und dazu eine kleine Dosis legalen Zellgiftes einwerfen. (Mit "UNO spielen" meine ich natürlich nicht, dass wir ein internationales Gremium simulieren und den Abend mit sinn- und fruchtlosen Debatten vertun wollten, sondern das gleichnamige Kartenspiel.)
Direkt in dem Häuserblock, in dem einer meiner Freunde damals
wohnte hatte ein neues Etablissement seine Pforten geöffnet.
Ein günstiger Zeitpunkt, denn es war Fastnachts-Freitag und
man durfte auf jede Menge trinklustige Gäste hoffen. Wir waren
recht früh dran und hatten somit die freie Platzwahl in der
relativ überschaubaren Gaststube. Der diensthabende Zapfhahn
begrüßte uns überschwänglich und entschuldigte
sich gleich darauf, dass die Karte auf dem Tisch leider wenig Realitätsbezug
aufwiese, aber sie hätten gerade erst neu eröffnet und
die Keller seien noch nicht so recht gefüllt und für die
warme Küche fehle noch die ein oder andere Lizenz. Ja, Chips
und Nüsse gäbe es.
Im Laufe des Abend füllte sich der Raum mit sage und schreibe
10 Leuten (Fastnacht ist halt keines unserer Hochfeste) . Was niemand
ahnte, dieses Niveau sollte nie wieder erreicht werden.
In den kommenden Woche besuchten wir unsere neue Lieblingskneipe
jeden Freitag. Zum ersten mal im Leben genoss ich das Erlebnis mit
einem freundlichen "dasselbe wie immer?" begrüßt
zu werden. Aber so ganz begriff ich das Konzept dieser Gastronomen
nicht. Die Kneipe wurde von mehreren Nebenerwerbswirten geführt,
die Tags einem ehrbaren Beruf nachgingen und abends ihr Glück
als Kneipenbesitzer versuchten. Eigentlich ein interessantes Konzept.
Der Businessplan sah vor, dass nach der Warmlaufphase einige der
Besitzer Vollzeit in der Kneipe arbeiten würden und evtl. sogar
bistroähnliche Zustände - also schon am Nachmittag offen
und aufgebackene Croissants - geplant seien.
Leider blieb es beim Versuch aber es war interessant. Einmal brachte
man uns unbestellt eine Pizza. Der langersehnte Ofen war endlich
installiert und wurde gerade ausprobiert, die Pizza war ein Geschenk
des Hauses weil alle Angestellten schon satt waren. Leider blieb
die beantragte Küchenbetriebslizenz aus und die Pizza ein Einzelfall.
An einem anderen Abend tat eine nette junge Frau Dienst, die Schwester eines der Besitzer (der war leider verhindert). Sie hatte extra Kuchen gebacken, der netterweise umsonst verteilt wurde. Leider wusste sie nicht, wie man die Kaffeemaschine bedient. Etwas später (zu spät für den Kuchen zumindest) wurde sie von ihrem Freund besucht, der war Italiener und kannte sich mit Kaffeemaschinen aus, bekamen wir doch noch einen Kaffee. Sogar für lau, weils etwas länger gedauert hatte.
Legendär auch der Tag, an dem es keine Cola (in Worten: Cola) gab. Die braune Brause gibt es bis auf drei Länder (Myanmar, Syrien und Kuba ) in wirklich jedem Winkel der Welt, außer in unserer Stammkneipe. Der Grund: Ludger (Name aus Pietätsgründen geändert) hatte vergessen einzukaufen. Muss man akzeptieren.
Zu dieser Zeit waren wir aber sowieso schon die einzigen Gäste. Wir spielten sogar mit dem Gedanken vorsichtshalber unsere eigenen Getränke mitzubringen und im Laufe des Abend den Pizzaservice in die Kneipe zu bestellen (für den Wirt natürlich auch eine, schon klar), Aber wir wurden fast wie Familienangehörige behandelt und die Kneipe war angenehm rauchfrei und das entschädigte für vieles.
Aber es kam wie es kommen musste. Eines Freitages standen wir vor verschlossenen Türen. Ein mitleidiger Buchprüfer hatte den tapferen Möchtegernwirten wohl vorgerechnet, dass es sinnvoller sei, sein Geld in windige Bauherrenmodelle zu investieren als weiterhin die Fahne freien Unternehmertums hochzuhalten. An uns hatte wieder mal keiner gedacht. Wir standen auf der Straße, die ersten Opfer des Firmensterbens das im Begriff war Deutschland heimzusuchen
Die ehemaligen Betreiber (obwohl, Betrieb war da ja eher nie)
machten dann wohl Karriere in den damals gerade noch florierenden
dot-com-joint-venture-cash-burn-Companys - darin hatten sie ja auch
ein gerüttelt Maß an Erfahrung gesammelt. Einer meiner
Freunde ist kurz darauf in die USA ausgewandert und ich begann aus
Langeweile an den einsamen Freitagabenden Material für eine
Website zu sammeln.
Bevor ich's vergesse, der Name der Kurzzeit-Kneipe war ein sprechender:
"Wirtschaftswunder".