Wieviel gummibärchen braucht ein Mann, um zu vergessen.

Es geht voran...

Darmstadt entwickelt mediterranes Flair. Sie lachen jetzt bestimmt, aber meine Heimatstadt galt ja schon früher als die „Stadt der drei Meere“: Im Dunkeln ein Lichtermeer, tagsüber ein Menschenmeer, nach 20.00 Uhr gar nichts mehr.

Jetzt aber wird langsam ein Traum wahr: man kann in Darmstadt leben wie in Italien. Ich spreche nicht vom Wetter - das ist bei uns bundesrepublikanisch durchwachsen – oder von internationalen Modegeschäfte, nein ich rede von der Möglichkeit einen Kaffe trinken zu gehen, ohne sich durch ein Rudel älterer Damen mit noch älteren Hündchen zu wühlen. In Darmstadt gibt es Kaffeebars. Jahrzehntelang mussten wir regelmäßig in den Süden fahren, um einen gepflegten Espresso in entspannter Atmosphäre zu genießen (mit gepflegter Aussicht auf eine gepflegte Piazza und einige gepflegte südländische Schönheiten. Damit ist jetzt Schluss, das geht nun auch vor der eigenen Tür.

Begünstigt durch das Absterben einiger wichtiger Bausteine des lokalen Einzelhandels (Handyläden und Ökobedarf) wurde Raum geschaffen für das, was zivilisatorisch wirklich wichtig ist: leckere Heißgetränke. Außerdem wurde auch mit einer anderen Unsitte Schluss gemacht, die zu unserer gastronomischen Kultur zählte, wie Sauerkraut und Kartoffelbrei. Sie wissen schon: „Draußen gibt’s nur Kännchen“.

Draußen gibt’s jetzt alles. Vorausgesetzt, man begibt sich zur Theke und holt sich das Gewünschte selbst. D.h. Kännchen gibt es gar keine mehr. Mein Tipp: Besorgen sie sich noch eines dieser Fossile, bevor sie ganz von unseren Tischen verschwunden sind. Und erzählen Sie Ihren Kindern davon.

Es hat zwei Kriege und ca. 100 Jahre Frieden gedauert, bis man bei uns gemerkt hat, dass man Kaffee auch anders zubereiten kann, als ihn durch Löschpapier zu filtern und dann mehrere Stunden warmzuhalten.

Und statt der zwei Sorten die es früher gab, nämlich „normal“ und „Kaffee Hag“, gibt’s jetzt unzählige. Kritisch gesehen gibt’s eigentlich nur eine, Espresso, aber in unzähligen Varianten.

Zu den italienischen Klassikern kamen auch einige amerikanische Varianten und diverse Unsäglichkeiten die durch die Kontamination von an sich trinkbarem Kaffee mit „aromatisierenden Flüssigkeiten“ entstehen. In Italien gibt es meines Wissens noch Leibsstrafen für das Versetzen von Espresso mit Mandel-, Erdbeer- oder Zwiebelaroma.

Aber die Auswahl wurde dadurch beträchtlich erweitert. Obwohl mir bis heute niemand den Unterschied zwischen einem „großen Milchkaffee“ (das Getränk der unangepassten Intellektuellen in meiner Jugend), einem Café Latte und einem großen Cappuccino erklären konnte. Es muss was mit den Inhaltsstoffen zu tun haben. Bei einer Latte Macchiato ist beispielsweise die Reihenfolge der Mischung das zentrale Element. Hier kommt der Kaffee zum Schluss in das Ensemble und befleckt die blütenweiße Haube aus Milchschaum. Daher hat die Mischung übrigens auch ihren Namen „macchiato“ bedeutet im Italienischen „befleckt“.

Man stelle sich ähnliche Zustände bei anderen Nahrungsmitteln vor. Ein schnödes Sandwich gäbe es in den Variationen „classico“ (Brot-Wurst-Brot), „doppio“ mit (Wurst-Brot-Wurst) und„americano“ (Brot-Brot-Brot).

Aber auch hier entwickelt sich schon regionales Brauchtum. Bei meinem letzen Besuch in Ulm steckte man mir beispielsweise einen Strohhalm in die Latte Macchiato. Überflüssiger Tand, allerdings immer noch besser als ein Schirmchen.

Manche „Spezialität“ erschließt sich mir auch nicht wirklich. Ein Café Americano wird anscheinend mit Wasser verdünnt. Ein Moccaccino ist...ja nun...etwas anderes, während ein Café Choc offensichtlich einen Anteil Kakao enthält den es wiederum auch als künstlich erzeugte Aromainfusion gibt, was dann wiederum ein „Café aromatizzati“ oder so ähnlich ist. Nun ja, immer noch besser als Kaffee Hag.

Aber ich gönne mir dann gelegentlich ein wenig private Rache, indem ich an der Theke einen „Kaffee“ bestelle. Die hilflos-irritierten Blicke der Brühbeauftragten sind jedesmal ein Fest. Nebenbei: Eine Studie hat gezeigt, dass viele Menschen nicht zu Aldi, Lidl und anderen Lebensmitteldiscountern gehen, weil die so billig sind, sondern weil einen dort das Angebot nicht überfordert. Aus 27 Sorten Toilettenpapier eine Auswahl zu treffen ist nichts für Ungeübte.

Das einzige was mich ein noch mehr irritiert als die Vielfalt, ist die Zahl, die normalerweise in der letzten Spalte der Karte steht. Meistens beginnt sie nämlich mit einer Zwei. In meiner Jugend hätte man jemand, der vier Mark für einen Kaffee verlangt spontan die Stirn gefühlt. Allerdings ist das nun auch schon wieder 20 Jahre her. Vielleicht hat meine Frau recht und ich lebe doch ein wenig in der Vergangenheit.

Aber letzte Woche habe ich die Kaffeebar meiner Träume entdeckt. Dort gibt es einen Espresso für 70 Cent und ein unschlagbares Literaturangebot. Ich spreche von der Kaffee-Ecke im Buch-Habel. Ein Ort für Intellektuelle wie mich, die gerne ein Buch zu ihrem Espresso nehmen. O.k. der Kaffee kommt aus einem Automaten, es ist nicht wirklich unter freiem Himmel, man sieht relativ wenig südländische Schönheiten (außer man lässt eine Hausfrau aus dem Odenwald durchgehen) aber es hat viel Schönes. Und deshalb werde ich jetzt auch Schluss machen. Ich verspüre nämlich gerade Lust auf einen Kaffee und zwei bis drei Kapitel zeitgenössische Literatur.

 

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